„An der Teampraxis führt kein Weg vorbei“

KVWL stellt Modell für die ambulante Versorgung der Zukunft vor

KVWL-Pressekonferenz
© KVWL

Dortmund, 09.09.2024 – Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) hat heute ein Positionspapier zum Zukunftsmodell „Teampraxis“ vorgestellt. Sie soll ein wesentlicher Baustein sein, künftige ambulante Versorgung zu sichern. Zugleich zeigt eine Blitzumfrage unter den KVWL-Mitgliedern: Das Thema Gewalt in den Praxen kann zu einem ernsthaften Sicherstellungsproblem führen.

„Wir steuern mit der Anspruchshaltung der Bundespolitik auf ein großes Sicherstellungsproblem zu, weil es für eine 24/7-Versorgung schlicht zu wenig Personal gibt, das die Behandlung der Patienten annähernd stemmen kann“, erklärt Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der KVWL. Dr. Volker Schrage, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KVWL, ergänzt: „Umso wichtiger ist es für die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten, ihre Praxis zukunftsfähig zu organisieren – an der Teampraxis führt hier kein Weg mehr vorbei.“

Dr. Spelmeyer: „Patienten möchten einfach, dass ihnen so schnell wie möglich geholfen wird. Dagegen wird die Arbeitsbelastung der Niedergelassenen und ihrer Praxisteams wegen Überbürokratisierung, Regressen und mehr immer größer. Auch mit Blick auf die altersbedingt schrumpfende Zahl der Ärzte kann es keine medizinische 24/7-Betreuung geben, wie es sich die Bundespolitik derzeit vorstellt. Somit müssen wir unsere bestehenden Praxisstrukturen überdenken – in Richtung kooperativer Praxisformen wie der Teampraxis.“

Land der Praxisnetze – Land der Teampraxis?

KVWL-Pressekonferenz
© KVWL

Dr. Volker Schrage, stellvertretender Vorstandsvorsitzender, erklärt: „Ja, der Trend geht eindeutig hin zu Kooperationen. Das haben wir in Westfalen-Lippe früh durch Praxisnetze gefördert.“

Allein die Zahlen hinter den Praxisnetzen in Westfalen-Lippe zeigen schon ihren großen Stellenwert: So arbeiten rund 1.600 Praxisteams mit insgesamt mehr als 2.100 Ärzten und Psychotherapeuten fachübergreifend zusammen. Sie versorgen rund drei Millionen Patienten. Zu den Aufgaben der Netze gehören unter anderem der Auf- und Ausbau der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit sowie die Definition und Umsetzung einheitlicher Qualitätsstandards. Alle Anstrengungen verfolgen dabei das Ziel, durch eine kooperative, wohnortnahe ambulante medizinische Versorgung die Qualität und die Effizienz zum Wohle der Patienten zu steigern.

Dr. Schrage: „Jetzt geht es um die stärkere Vernetzung innerhalb der Praxisteams. Dort setzt das Konzept der Teampraxis an: mit Ärzten sowie qualifiziertem Personal, das den Praxis-Ablauf maßgeblich mitgestaltet und patientenorientierter ausrichtet. Denn die Arztzeit ist knapp. Darum brauchen wir unterschiedliche Experten. Dabei ist klar definiert: Die endgültige Entscheidung trifft immer der Arzt. Davon profitieren alle, Praxen und Patienten.“

Neben Medizinischen Fachangestellten, kurz MFA, sind in den haus- und fachärztlichen Praxen zum Beispiel die „erweiterte Versorgungsassistenz in der Hausarztpraxis“ (VERAH) oder die „nichtärztliche Praxisassistenz“ (NäPA) im Einsatz. Dr. Schrage: „Sie alle übernehmen schon heute viele Tätigkeiten, die uns als Ärzte massiv entlasten: Seien es die klassische Blutabnahme, Impfungen oder die teilweise sehr zeitintensiven Hausbesuche. Die Zusammenarbeit mit diesen medizinischen Berufen funktioniert reibungslos, wird von den Patienten geschätzt und ist längst gelebte Realität.“

Neben den etablierten Weiterbildungsmöglichkeiten für die MFA kommen derzeit neue Berufsbilder im Sinne der Teampraxis hinzu. Ein Beispiel sind die Physician Assistants, kurz PA. Ein PA kann nach Abschluss seines sechssemestrigen Studiums Anamnesen und Untersuchungen durchführen, Patienten umfassend beraten, sie über Eingriffe aufklären oder Maßnahmen und Befunde erklären. Dr. Schrage: „Die KVWL hat den hohen Stellenwert und das Leistungsvermögen eines PA für die ambulante Versorgung sehr schnell erkannt.“

Um dieses neue Berufsbild nachhaltig in die westfälisch-lippische Versorgung zu integrieren, hat die KVWL ein Modellprojekt in Kooperation mit der Europäischen Fachhochschule (EUFH) Rheine und der Deutschen Gesellschaft für Physician Assistants (DGPA) gestartet. Seit April 2023 werden Absolventen des PA-Studiengangs mit insgesamt zehn ausgewählten Praxen in Westfalen-Lippe eingesetzt. Das Zentralinstitut der Kassenärztlichen Versorgung (Zi) evaluiert das Projekt. Schrage erläutert: „Bessere Aufstiegschancen und Arbeitsbedingungen, näher und dauerhaft am Patienten arbeiten, eine familiäre Arbeitsatmosphäre – darum möchten Physician Assistants gerne im ambulanten Sektor arbeiten. Sie können für den Erhalt vieler Praxen sorgen – gerade in ländlichen Regionen, die in Westfalen-Lippe eine wesentliche Rolle spielen.“

Dr. Schrage macht klar: „Eine wesentliche Grundlage dafür, dass der Einsatz von PA greifen kann, ist eine ausreichende Finanzierung.“ Bisher gilt der Arzt-Patienten-Kontakt (APK) – persönlich oder in einer Videosprechstunde – als Voraussetzung für die Abrechnung der Versichertenpauschale. Bei der Versichertenpauschale handelt es sich um eine Vergütung, die gemäß Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV-Ä) einmal je Quartal beim ersten Arzt-Patienten-Kontakt abgerechnet werden kann. Das gilt aber nicht für die eigenständige Behandlung durch qualifizierte Mitarbeitende ohne Hinzuziehen des Arztes. „Physician Assistants können bei Hausbesuchen oder in der Praxis in Absprache aber jeden fünften Patientenkontakt übernehmen und ermöglichen dem Arzt und der Ärztin so eine enorme Zeitersparnis von bis zu 20 Prozent!“, unterstreicht Schrage. Der Knackpunkt: Derzeit kann dafür die Versichertenpauschale nicht zufriedenstellend abgerechnet werden. „Wir setzen uns deswegen für den Praxis-Patienten-Kontakt ein“, sagt Dr. Schrage. Sein Appell an die Bundespolitik: „Diese Änderung in der Vergütungssystematik würde dazu beitragen, die eigentliche Praxisleistung zu honorieren – nicht notwendige Arzt-Patienten-Kontakte könnten deutlich reduziert werden.“

Zunehmende Gewalt in Praxen

KVWL-Pressekonferenz
© KVWL

Bei all den Bestrebungen nach innovativen und nachhaltigen Sicherstellungskonzepten blickt der KVWL-Vorstand mit Sorge auf die zunehmende Gewalt in den Praxen: Beleidigungen, Bedrohungen, Belästigungen gehören für viele Praxisteams inzwischen zum Arbeitsalltag. Die Ergebnisse einer KVWL-Blitzumfrage, an der sich rund 760 Mitglieder beteiligt haben, sind alarmierend. So gab ein Viertel der Teilnehmenden an, dass sie aufgrund verbaler oder körperlicher Gewalt schon einmal darüber nachgedacht haben, ihre Praxis aufzugeben. Weiteres Warnsignal: Fast 20 Prozent der Teilnehmenden finden aufgrund von Gewalterfahrungen nicht genügend Praxispersonal.

Dr. Spelmeyer: „Diese Zahlen machen uns sehr nachdenklich. Klar ist: Es handelt sich um ein bundesweites Problem, das wir nur gemeinsam lösen können. Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat dazu alle Praxen in Deutschland befragt. Die Ergebnisse sollen im Laufe der Woche veröffentlicht werden; der Trend geht insgesamt in eine ähnliche Richtung. Vor allem verbale Gewalt und psychischer Druck werden als große Probleme angesehen. Das bedeutet für die Sicherstellung einer ambulanten medizinischen Versorgung leider nichts Gutes. Einige Kollegen überlegen offenbar: Wie lange tue ich mir das noch an? Und wie finde ich vor diesem Hintergrund überhaupt noch Personal?“

Dr. Schrage: „Das Modell der Teampraxis zeigt eindrucksvoll, welche erheblichen Vorteile ein konstruktives Miteinander haben kann. Ich bin davon überzeugt, dass sich dieser Ansatz auch gut auf unsere Gesamtgesellschaft übertragen lässt. Denn wie in der Teampraxis gilt auch im alltäglichen Leben: Es kann nur miteinander funktionieren – nicht gegeneinander.“ 

„Respektvoller Umgang“

Neben möglichen strafrechtlichen Konsequenzen, die der Gesetzgeber klar definieren und umsetzen muss, formuliert der KVWL-Vorstand einen gemeinsamen Appell: „Wir alle müssen dringend wieder zu einem respektvollen Umgang zurückkehren. Wir müssen für uns als Gesellschaft klar definieren, dass es beim Thema Gewalt null Toleranz geben darf. Diese Werte und Regeln müssen wir leben. Und zwar jeden Tag im Jahr. Jeder für sich, alle gemeinsam. Dann können wir wieder in ein ruhigeres Fahrwasser zurückfinden.“ -SL/SK/DM

Weiterführende Informationen zur Teampraxis

Teampraxis
Zukunftsmodell Teampraxis: Mehr als interprofessionelle Kooperation

KVWL-Pressestelle